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Titel
Die Nation im Schulbuch – zwischen Überhöhung und Verdrängung. Leitbilder der Schweizer Nationalgeschichte in Schweizer Geschichtslehrmitteln der Nachkriegszeit und Gegenwart


Autor(en)
Furrer, Markus
Reihe
Studien zur Internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Ecker-Instituts 115
Erschienen
Hannover 2004: Georg-Eckert-Institut
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Zsolt Keller, Zürich

Die Schule ist ein wichtiger Ort, an welchem das Geschichtsbewusstsein geformt wird. Der Geschichtsunterricht ist in diesem Prozess als spezifischer Teil eines komplexen Sozialisierungsmechanismus zu sehen. Mit ihrem quasi-offiziellen Charakter entfalten Schulgeschichtsbücher eine Wirkung, die weit über die Schulstuben hinausgeht. Dadurch werden sie auch zum Spiegel eines breiten zeitgenössischen Bewusstseins. Diese einleitenden theoretischen Gedanken Markus Furrers erhalten immer wieder politische Brisanz. Die Gefahr, die von Schulbüchern und den in ihnen vorhandenen Geschichtsbildern ausgeht, hat die jüngste Auseinandersetzung zwischen Japan auf der einen und Südkorea und China auf der anderen Seite der Öffentlichkeit vor Augen geführt. Nach einer Phase der Annäherung, spitzte sich der Konflikt zu, nachdem das japanische Erziehungsministerium ein Schulbuch genehmigt hatte, das die Rolle Japans im Zweiten Weltkrieg aus der Sicht seiner ehemaligen Kriegsgegner – verharmloste1. Ein Blick auf die Schweizer Schulgeschichtsbuchtradition fördert keine Skandale zu Tage, zwingt aber zur Reflexion über althergebrachte Geschichtsbilder. Im Brennpunkt der Studie von Markus Furrer steht die Darstellung nationaler Leitbilder in den Schweizer Schulgeschichtsbüchern der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart.

Ältere Schweizer Geschichtsbücher, die bis Ende der 1960er Jahre in Gebrauch waren (das Schwergewicht der untersuchten Lehrmittel liegt auf der Sekundarstufe I) und meist auf frühere Versionen aus den 1930er und 1940er Jahren zurückgingen, präsentierten die Schweizer Geschichte als eine Komposition von kollektiven Bildern und Vorstellungen. Die nationale Geschichtsschreibung glich einem farbigen Bildband erzählter Geschichte. Während die akademische Forschung mit ihren wissenschaftlichen Ansprüchen im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr Mühe bekundete, eine lineare Entwicklung von der Urzeit bis hin zur Gründung des Bundesstaates und darüber hinaus zu konstruieren, war die Reduktion komplexer Vorgänge für Schulbuchautoren weniger problematisch. Sie propagierten weiterhin ein teleologisches Geschichtsbild, das Furrer folgendermassen rekonstruiert: «Es baut auf einem linearen Rückbezug auf das Uralte; es setzt weiter an beim Gründungsmythos mit oder ohne klassische Heldensagen, jedoch mit dem Mythos der Gründungsurkunde im Mittelalter; es erkennt das Motiv zur beginnenden Eigenstaatlichkeit im Freiheitsdrang und der Unterdrückung durch Habsburg; es unterscheidet aus der Perspektive des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen Fremden und Eigenen und entwickelt eigentliche Anti-Habsburg-Stereotypen mit einer naturgegebenen Distanz zum Reich; es strebt nach Einheit und Harmonie bei der Betrachtung der Entwicklung der Eidgenossenschaft und ebnet die Konfliktivität ein; es erkennt in 1848 den Abschluss und das Erreichte und sieht in den folgenden Jahrzehnten eine Phase der Bewährung.» [...] Der «Zeitfluss zwischen der auf einer Linie liegenden Alten Eidgenossen mit der modernen Schweiz ist angehalten und zum Stillstand gebracht. Vergangenheit verschmilzt mit der Gegenwart» (S. 306). Im Geschichtsunterricht dominierte das «klassische Lehrbuch», das ein fertiges und bündig geordnetes und weitgehend gedeutetes Orientierungswissen vermittelte. Die Geistige Landesverteidigung der Vorkriegsund Kriegszeit brachte einen verstärkten Rückgriff auf die Gründungstradition der Eidgenossenschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, indem sie Werten wie Vaterlandsliebe und Weckung staatsbürgerlicher Tugenden nacheiferte. An den althergebrachten Mythen änderte sich vorderhand wenig. In die Nachkriegsphase trat die Schweiz als «Sonderfall» ein, der eine kritische Auseinandersetzung mit der tradierten Vergangenheit vorerst verhinderte. Der Heimatbegriff wurde auf einem stark lokalen und föderalistischen Fundament aufgebaut. Bis weit in die 1960er Jahre stellte das an den Primarschulen unterrichtete Fach «Heimatkunde» mit einem meist rein narrativen Zugang Heimatverbundenheit und Lokalpatriotismus her. In den Schulstuben der höheren Klassen verbreitete sich jedoch ein Geschichtsbild, das, einem rein politikgeschichtlichen Ansatz folgend, das Werden der «Schweiz» als Erfolgsgeschichte mit glücklichem Ende darstellte.

Ab Mitte der 1970er Jahre zeichnete sich sowohl in der akademischen Forschung und Lehre wie auch in der Schulbuchtradition ein Umbruch ab. Mit dem Aufkommen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte richtete sich der Fokus des Interesses vermehrt auf lokal- und regionalgeschichtliche Themen. Obwohl der «68er Aufbruch» eine «Didaktisierung» und «Politisierung» der Geschichte forderte, erhielt der regionalhistorische Ansatz, indem er «Vor-Ort-Erkundungen», die Befragung von Zeitzeugen oder die Arbeit im lokalem Museum und Archiv zuliess, einen stärkeren didaktischen Stellenwert2. Erstaunlich ist, dass sich die neuen Forschungsansätze nur wenig verzögert in der Schulbuchliteratur niederschlugen.

Die national-teleologische Ausrichtung der Geschichtsschulbücher wurde im Verlaufe der 1980er Jahre und im Zuge der 1990er Jahre kritisch erfasst, indem auch die Konstruktion des Nationalen als Metaebene in die breite historische Forschung und damit teilweise auch in die Lehrbücher Einzug hielt. Vermochte der Umbruch der 1970er Jahre trotz seiner thematischen Öffnung und der neuen didaktischen Formen das Nationale nicht ins Wanken zu bringen, gelang dies dem Wandel von 1989/91 verstärkt.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheinen gesellschaftlich verbreitete Geschichtsbilder an zwei Polen auf. Einer ist eher national-konservativ und reproduziert den Sonderfall: Eine Schweiz, die «frei sein will, wie die Väter waren». Ihm gegenüber steht die Ansicht, die die Offenheit der Gesellschaft und des Landes propagiert und sich das Motto «Weitblick wäre besser» auf die Fahnen geschrieben hat. In diesem neuen Kontext zeichnen sich Konturen einer neuen Generation von Schulgeschichtsbüchern ab. Allerdings existieren bislang erst wenige Werke. Furrer ortet in den von ihm untersuchten Lehrwerken blinde Flecken, die sich bis in die Gegenwart gehalten haben: So die Tatsache, dass der Mythos des Réduit und der Neutralität (in all ihren Ausgestaltungen) nach wie vor nicht umgestossen seien. Zwar seien sie im Zuge des Umbruchs während den 1970er Jahren und nach 1989/91 verblasst, hielten sich aber weiterhin hartnäckig. Weitere Defizite sieht Furrer in der Marginalisierung der «Zeitgeschichte» im Allgemeinen sowie der Geschichte der Frauen, der Schweizer Jüdinnen und Juden sowie der Ausländerinnen und Ausländer im Speziellen.

Markus Furrers Analyse der in der Schweiz verwendeten Geschichtsschulbücher ist nicht nur ein Beitrag an die hierzulande bislang wenig beachtete Schulbuchforschung, sondern stellt zugleich ein Stück Schweizer Historiographiegeschichte dar. Indem er Mythen entlarvt und konsequent dekonstruiert, wird der Lesende «heimatlos». Die Geschichte der Schweiz und damit verbunden die des Geschichtsunterrichts «als ein wichtiger Kitt der Schweizer Identität» kommt nur schwer ohne Vereinfachungen und suggestive Bilder aus. So stellt auch Furrer die Frage, ob Geschichtsschreibung ohne Mythen auskommt. Wohl kaum. Seine Studie schliesst mit einem «Plädoyer für eine offene nationale Dimension im Schulbuch »: Eine Art der Betrachtung, die ein statisch-monolithisches Geschichtsbild aufbricht, die sich immer wieder ihrer eigenen Mythen vergewissert und die das Dynamisch-Prozessuale von Geschichte und der Geschichtsschreibung betont. Es ist das Verdienst Furrers, mit seiner Studie diesen Prozess in Bezug auf die Schulbuchforschung der Schweiz angestossen zu haben3.

1 Vgl. Marco Kauffmann, «Japan verharmlost Verbrechen», in: Tages-Anzeiger, 9. April 2005; Urs Schoettli, «Antijapanische Proteste in China. Verärgerung über Tokios neue Geschichtsbücher », in: Neue Zürcher Zeitung, 11. April 2005.

2 Siehe auch: Niklaus Meienberg, der von seinen didaktischen Erfahrungen und methodischen Ansätzen während eines kurzen Einsatzes als Geschichtslehrer an der Kantonsschule in Chur aus dem Jahre 1972 berichtete: Niklaus Meienberg, «Stille Tage in Chur. Erinnerungen an eine Kantonsschule», in: ders., Reportagen aus der Schweiz, Zürich 1974, S. 45–90.

3 Als neueres Werk: Matthias Fuchs «Dies Buch ist mein Acker». Der Kanton Aargau und seine Volksschullesebücher im 19. Jahrhundert (Beiträge zur Aargauergeschichte; Band 10), Aarau 2001.

Zitierweise:
Zsolt Keller: Rezension zu: Markus Furrer: Die Nation im Schulbuch – zwischen Überhöhung und Verdrängung. Leitbilder der Schweizer Nationalgeschichte in Schweizer Geschichtslehrmitteln der Nachkriegszeit und Gegenwart (Studien zur Internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Ecker-Instituts; 115), Hannover, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 359-361.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 359-361.

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